„Hallo, ich bin Marianne. Ich könnte deiner Karriere ein wenig auf die Sprünge helfen.“
Verdutzt sieht Marquise auf eine blonde Frau hinunter, die nach dem Konzert unaufgefordert in der Künstlergarderobe erschienen ist. Obwohl die Person mit blondem Pagenschnitt und schwarzem Anzug einen ganzen Kopf kleiner ist als sie, fühlt sie sich eingeschüchtert. Marianne hat eine knabenhafte Figur, ist jedoch nicht gerade zierlich gebaut. Dennoch könnte man sie attraktiv finden, wäre da nicht dieser eisige Blick, der ihrem Gesicht einen unsympathischen, nahezu herrischen Ausdruck verleiht. Herrisch ist auch ihre Stimme, hart, mit einem distanzierten, kühlen Klang.
„Ein Manager ist wichtig. In deinem Geschäft“, schwatzt die Fremde weiter, ohne auf Marquises verwirrten Gesichtsausdruck zu reagieren. „Ich habe dir zugehört. Du bist fantastisch. Dir fehlen lediglich Verbindungen, um den Weg nach oben zu schaffen. Nun… die habe ich. Ich kann dafür sorgen, dass du die richtigen Auftritte bekommst, dass deine Artikel in den richtigen Zeitungen erscheinen, dass die ganz Großen auf dich aufmerksam werden. Na, was sagst du?“ Marquise ist sprachlos. „Du brauchst noch keine Entscheidung zu treffen“, fährt Marianne unbekümmert fort. „Nimm einfach meine Karte. Du solltest mich anrufen, wenn du darüber nachgedacht hast.“ Dann geht sie.
„Eine Managerin?“ Maxim gefällt dieser Gedanke gar nicht. „Manager sind Aasgeier, die nur den eigenen Profit sehen. Denen ist der Mensch egal.“ „Ich will mich trotzdem bei ihr melden“, erwidert Marquise, die sich bereits entschieden hat. „Vielleicht macht sie mich tatsächlich mit den richtigen Leuten bekannt.“ Maxim ist verstimmt. „Bist du noch nie von einem Profi angesprochen worden?“, fragt sie vorsichtig, bemerkt, wie er augenblicklich in ein betroffenes Schweigen verfällt. „Nein“, gibt er nach einer Weile zu. Das ist es also. „Du bist neidisch“, schlussfolgert sie prompt. „Richtig?“ „Unsinn!“ Seine Stimme bekommt einen aggressiven Unterton. „Ich würde dir alles gönnen. Das weißt du doch. Ich halte die Sache nur für keine sonderlich gute Idee.“
„Ich glaube, sie ist das Beste, was mir passieren konnte“, hält Marquise dagegen. „Jeder Star hat einen Manager. Es wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung.“ „Du bist naiv, Marquise…“ Mit gekränkter Miene verschränkt er die Arme. „Das Erste, was diese Managerin tun wird, ist, alles aus dem Weg zu räumen, was zwischen dir und ihr steht. Und das bin ich. Sie wird einen Keil zwischen uns treiben. Sie wird dich von Konzert zu Konzert jagen. Wir werden uns voneinander entfernen.“ Jetzt muss Marquise gegen ihren Willen lächeln. „Du machst dir Sorgen?“ „Ich mache mir immer Sorgen, Marquise.“ Er zündet sich eine Zigarette an. „Wenn du meinst, dass du es tun musst, dann ruf diese Frau an. Lass aber nicht zu, dass sie dich total vereinnahmt.“
„Du bist also zweiundzwanzig?“ „Ja.“ Marquise ist in Mariannes Büro. Die Möbel sind schwarz, elegant, haben zweifellos einen Stil, der zu ihr passt. „Single?“ „Nein.“ Die Managerin verzieht keine Miene, während sie mit wichtigtuerischen Gesten eine vor ihr liegende Liste abarbeitet. „Wohnst du alleine?“ „Nein. Bei meinem Freund.“ „Hm.“ Ihr Kugelschreiber bewegt sich rasend schnell über das Papier. „Ist sie groß? Die Wohnung?“ „Nein“, sagt Marquise wieder. „Dann müssen wir etwas Angemessenes finden.“ Marianne sieht nicht von ihrem Papier auf. „Was macht er? Dein Partner?“ „Er ist Geiger“, antwortet sie stolz, „ein fantastischer Solist…“ „Wirklich?“ Die blonde Frau wird hellhörig. „Wie heißt er?“ „Maxim.“ „Weiter?“ „Romanov.“ „Das sagt mir leider gar nichts.“ Marianne wirkt ernüchtert, wendet sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Du bist Schülerin von Clarice Chevalier?“ „Ja.“ „Nun, das sind gute Voraussetzungen.“ Mariannes Mund verzieht sich zu einem kalten Lächeln. „Chevalier war früher selbst mal ziemlich groß im Geschäft. Es wundert mich nicht, dass sie dich unterrichtet. Du hast Gold in der Kehle, Marquise.“ Dann wird sie ernst. „Ich will dir keine Illusionen machen… Dir muss bewusst sein, dass dein Leben ab jetzt nicht leichter wird. Verstehst du?“ „Ja“, erwidert Marquise einsichtig, während sie mit ungutem Gefühl an das Gespräch mit Maxim zurückdenkt. „Du wirst mehr tun müssen, wirst dich noch mehr anstrengen müssen.“
„Ich werde mein Bestes geben.“ Marquises Fingerspitzen trommeln nervös auf die Tischplatte. „Ja wirklich, ich kann sehr streng mit mir sein. Ich habe Disziplin.“ „Gut“, Marianne legt ihren Kugelschreiber zur Seite, sieht ihr direkt ins Gesicht. „Du kannst es schaffen. Sonst wärest du nicht hier. Es wird jedoch nicht ohne Opfer gehen. Der Weg zum Ruhm ist nun mal ein Weg voller Qualen.“ „Ich weiß.“ Trotz der rosigen Zukunftsaussichten bemerkt Marquise einen Kloß im Hals, überlegt, ob nicht alles zu schnell geht. „Gut“, schließt Marianne zufrieden, „das hier musst du ausfüllen. Ich werde mich in den nächsten Tagen bei dir melden.“
Marquise Montiniere, der Paradiesvogel Englands
Gebannt verfolgt Maxim die Schlagzeile über dem Bild seiner Liebsten. Marquise sieht entzückend aus in ihrem roten Kleid. Gianni hat Geschmack, denkt er. Das muss man ihm lassen. Rot ist ihre Farbe. Londons neues Gesicht, liest er. Im Artikel darunter: Marquise Montiniere heißt die junge Sängerin, die schon bald die Opernbühnen Englands ihr Eigen nennen darf. Sie überzeugt nicht nur mit ihrer dramatischen, einfühlsamen Stimme, sondern auch mit ihrer Schönheit… Schönheit? Er legt die Zeitung beiseite. Etwas in ihm sträubt sich dagegen, Marquises Ruhm so einfach hinzunehmen. Schönheit? Was erlaubt sich dieser Schmierfink? Der Text ist doch ganz sicher von einem Mann geschrieben… Er greift erneut nach der Zeitung, wirft einen Blick auf den Verfasser. Ja, natürlich.
Obwohl ihm bewusst ist, dass er nicht der Einzige ist, dem Marquise gefällt, will er nicht, dass demnächst unzählige, schmachtende Reporter lüsterne Artikel über seine Partnerin schreiben. Ob das immer so ist, wenn eine Sängerin berühmt wird?, überlegt er. Sicher. Und das wird sie nun mal. Berühmt. Marquise hat in ihren letzten Rollen brilliert. Zweifellos. Eine Stimme, hat die Presse zutreffend gejubelt, wie dunkler, süßer Honig. Maxim seufzt, steht auf, nimmt seine Geige in die Hand. Nein, er wird sich nicht aufregen. Marquise hat gerade eine Glückssträhne, und er wird sich selbstverständlich für sie freuen.
„Weißt du noch, Cecilia“, sagt er, sieht seine Geige melancholisch an, „wie es früher war? Du warst die einzige Frau in meinem Leben. Natürlich gab es da noch die ein oder andere… Doch die konnten nicht mithalten. Nicht mit dir. Das hat sich geändert, Cecilia. Jetzt bist du nur noch Nummer zwei. Nicht deshalb, weil du all die Jahre keine vortreffliche Partnerin gewesen wärest… Du warst geduldig… Kein bisschen zickig… Es ist nur so, dass ich mit dir weder reden noch streiten kann. Verstehst du das? Mit Marquise schon. Ich bin ihr verfallen. Sie hat mein Leben um so viel bereichert…“
Er hält inne, denkt an den Moment zurück, als Marquise ihre Gefühle offenbart hat. In diesem Moment ist etwas in ihm erwacht. Etwas, dass er nun nicht mehr missen will. „Sie entgleitet mir, Cecilia“, klagt er. „Ich weiß nicht, ob ich sie halten kann. Sie wird mir über den Kopf wachsen. Dauernd ist sie fort. Ich habe keine Ahnung, wo sie gerade steckt. Was soll ich…“ Maxim unterbricht sich abrupt. Die Lösung scheint urplötzlich auf der Hand zu liegen. Auch er wird sich um seine Karriere kümmern, seine Ziele von früher verfolgen. Was Marquise kann, kann er schließlich auch.
Marianne ist, wie Maxim ein paar Monate später neidlos anerkennen muss, Meisterin ihres Fachs. Marquises Stimme ist gefragter denn je. Die Kulturblätter sprechen von nichts Anderem mehr. Seine eigene Kariere läuft dagegen eher schlecht als recht. Er hat ein paar exzellente Konzerte gegeben, ja. Die Reihen sind jedoch nicht voll besetzt gewesen. Nüchtern betrachtet ist er nicht mehr so jung wie Marquise, doch auch nicht zu alt, um ein Star der klassischen Musik zu werden. Er ist erst knapp über dreißig, steht seiner Freundin weder im Können noch in der Bühnenpräsenz nach.
Es ist wieder mal tief in der Nacht, als Maxim wach im Bett liegt, neben ihm Marquise, die fest schläft. Der Gedanke, ein Versager zu sein, treibt ihn um. Was ist der Unterschied zwischen ihm und seiner Freundin? Warum können sie nicht beide erfolgreich sein? Ist es ein Naturgesetz, dass immer nur einer nach oben kommt? Marquise hat bereits gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt, hat sich große Mühe gegeben herauszufinden, was es ist. Doch er hat es nicht gesagt. Mal wieder nicht. Zu groß ist die Angst gewesen, nicht richtig verstanden zu werden.
Natürlich ist er stolz auf sie und ihre Karriere… Trotzdem will er nicht ständig in ihrem Schatten stehen. Warum hat sie es geschafft? Am Talent alleine kann es nicht liegen… Woran sonst? Mit einem Mal fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Marianne. Natürlich. Sie ist die treibende Kraft hinter alledem. Ihr hat Marquise viel zu verdanken. Auch wenn Maxim professionelle Manager für sich bisher abgelehnt hat, sein Schicksal nicht in die Hand eines Fremden legen wollte, so muss er doch einsehen, dass dies ein entscheidender Punkt ist. Die Agentur. Vielleicht, so überlegt er, ist dieser Schritt unausweichlich.
Maxim betrachtet Marquise. Ihr Atem geht langsam und gleichmäßig. Auch schlafend und ungeschminkt ist sie noch wunderschön. Ich bin ein Glückspilz, denkt er, lächelt, streicht ihr vorsichtig über das Haar. Direkt morgen würde er es tun. Sich einen Manager suchen. Auch wenn ihm nicht wohl bei dem Gedanken ist.
„Hast du schon davon gehört?" „Was?“, irritiert sieht Marianne von ihrem Computer auf. „Dass Maxim jetzt auch einen Manager hat?" „Ja.“ Sie wendet sich erneut dem Bildschirm zu. „Es ist David, ein Kollege von mir. Völlig unfähig, wenn du mich fragst. Mach dir keine Gedanken." „Warum sollte ich mir Gedanken machen?" Verständnislos sieht Marquise sie an. „Na, weil du völlig aufgewühlt bist.“ Marianne klingt genervt. „Sonst wärest du jetzt wohl nicht hier. Du machst dir Gedanken darüber, dass Maxim bekannter werden könnte als du. Das wird er nicht. Nicht mit David. Also brauchst du nicht weiter darüber nachzudenken."
„Ich mache mir keine Gedanken…“, murmelt Marquise, setzt sich auf einen Stuhl vor Mariannes Tisch. „Ich verstehe nur nicht, warum er das jetzt doch tut. Er hat immer gesagt, er will das alleine schaffen. Ohne Manager. Ich weiß noch, was für einen Aufstand er gemacht hat, als ich zu dir gegangen bin…" „Er ist ein Mann, Marquise.“ Mariannes Finger hämmern im Akkord auf die Tastatur. Eine leichte Bissigkeit liegt in ihren Worten. „Wenn ich dir eines über Männer sagen kann, dann das: Sie vertragen es nicht, wenn die Frau überlegen ist. Deswegen habe ich keinen."
Als sie nach einer Weile aufblickt und bemerkt, dass Marquise sich immer noch Sorgen macht, wird sie wütend. „Herrje, jetzt geh schon! Kümmere dich um deine Stimme!“, faucht sie. „Halte mich hier nicht auf. Ich plane deine Tournee. Das ist viel Arbeit, klar? Singe oder was du sonst so tust, aber geh!" Auch wenn Marquise den harten Ton ihrer Managerin gewohnt ist, zuckt sie unwillkürlich zusammen. „Es ist nicht so, wie du denkst“, entgegnet sie vorsichtig, versucht sich klarer auszudrücken. „Ich habe das Gefühl, dass wir uns entfremden.“ „Und wenn…“, erwidert Marianne geistesabwesend.
„Marianne, ich…", unternimmt Marquise einen letzten Versuch, ihre Bedenken loszuwerden, doch die Managerin fährt ihr hart über den Mund. „Verdammt, Marquise! Er ist doch nur ein Mann! Männer sind ersetzbar. Eine Karriere nicht. Wenn du jetzt keine Opfer bringst, ist der Zug abgefahren. Schon vergessen? Willst du nun eine Karriere oder nicht?" Marquise schluckt mühsam, wirkt hin- und hergerissen. „Ja“, flüstert sie dann. „Schon.“ „Gut“, Mariannes Stimme wird noch kühler als sonst. „Dann darfst du es Maxim wohl nicht verübeln, dass er auch eine will. Und jetzt geh endlich, in Dreiteufelsnamen."
Maxim Romanov - Gefühl ist alles
Ein Interview mit dem Newcomer des Jahres
Von unserem Reporter James Gardner
James:
Maxim, wären Sie zu einem kurzen Interview bereit?
Maxim:
Natürlich.
James:
Sie gelten als der aufsteigende Stern der Klassikszene. Und das, obwohl vor einem Jahr noch fast niemand Ihren Namen kannte. Wie kam es dazu?
Maxim:
Vieles verdanke ich meinem Manager. David. Er hat mir dabei geholfen. Ohne ihn, wäre ich heute nicht hier.
James:
Die Kritiker loben insbesondere ihre gefühlsvolle Spielweise…
Maxim:
Glücklicherweise. Gefühl ist das Wichtigste in der Musik.
James:
Sind Sie denn ein gefühlvoller Mensch, Maxim?
Maxim:
Ich denke schon.
James:
Sie denken?
Maxim:
Fragen Sie mein Umfeld. (grinst)
James:
Ihre Freundin, Marquise Montiniere?
Maxim:
Sie kann das am besten beurteilen. Sie muss es schließlich mit mir aushalten. (lacht)
James:
Was halten Sie von dem Spitznamen, den die Presse Ihnen Beiden verpasst hat?
Maxim:
Maxquise? Das finde ich wirklich reizend. (lacht wieder) Klingt ein wenig wie exquisit.
James:
Würden Sie ihre Beziehung so bezeichnen?
Maxim:
Marquise ist mein ganzes Glück. (ernst)
James:
Ist es denn nicht schwierig, jetzt, wo Sie beide so erfolgreich sind?
Maxim:
Sicher ist es nicht immer einfach. Wir haben beide viel zu tun. Sind oft unterwegs. Doch das sollte kein Hindernis sein. Oder? Für die Liebe des Lebens?
James:
Und das ist sie?
Maxim:
Das ist sie. Marquise ist die Einzige für mich. Abgesehen von meiner Geige natürlich. Die wird auch immer einen Platz in meinem Herzen haben.
James:
Cecilia, richtig? Wie beschreiben Sie die Beziehung zu Ihrer Geige?
Maxim:
Es gab dieses Band zwischen uns. Von Anfang an. Genau wie bei Marquise.
…
Aufgebracht schlägt Marianne die Zeitung zu. „Verdammter Scheißkerl!" „Was hast du?“ Marquise sieht sie fragend an. „Das hört sich doch ziemlich gut an. Maxim hat es endlich geschafft. Ich freue mich für ihn. Jetzt sind wir beide im Rampenlicht. Wer hätte gedacht, dass es so kommt. Seit neuestem haben wir sogar einen eigenen Namen…" „Ich meine nicht Maxim. Ich meine David!" Marianne ist rot vor Zorn. „David hat noch nie was zustande gebracht. Doch jetzt sieht es ganz so aus, als ob auch er mal die richtige Strategie angewendet hätte. Jetzt haben wir beide einen Newcomer hervorgebracht, was heißt, dass sein Standing deutlich besser geworden ist. Er wird künftig eine ernstzunehmende Konkurrenz sein."
Marquise lacht über ihre Befürchtungen. „Für mich ist es jetzt viel einfacher. Es scheint so, als ob David alle Probleme aus dem Weg geräumt hätte." „Ach, Schätzchen.“ Marianne schüttelt missbilligend den Kopf. „Du bist so naiv. Eure Probleme werden bald erst richtig anfangen." „Wie meinst du das?“ hakt Marquise nach. „Ich meine gar nichts.“ Marianne, die keine Lust auf eine weitere Maxim-Diskussion hat, macht einen Rückzieher. „Du hast Recht. Alles ist wunderbar so, wie es ist." „Warum belügst du mich?" Marquise weiß, dass sie nicht ehrlich ist. „Weil du es nicht verstehen würdest“, erwidert Marianne, während sie aufsteht, um die Zeitung auf dem Couchtisch abzulegen.
„Eine schöne Suite übrigens“; stellt sie im Vorbeigehen fest. „Sehr geschmackvoll. Sicher war sie sündhaft teuer." „Versuche nicht, meiner Frage auszuweichen!", beharrt Marquise verärgert. Marianne zündet sich eine Zigarette an, sieht ihr fest in die Augen. „Früher oder später wirst du verstehen, was ich meine… Wenn ihr beide erst einmal erfahren habt, was es heißt, ganz oben im Showbiz zu sein… Wenn überall Verlockungen winken…" Marianne wendet sich zum Gehen. „Die roten Vorhänge sind geschmacklos“, erwähnt sie noch, bevor sie durch die Tür verschwindet. „Ihr solltet sie ersetzen!"
François staunt nicht schlecht, als Maxim vor seiner Tür steht. „Hallo Maxim“, grüßt er verwirrt. „Kann ich dir helfen…?" Ihm ist durchaus bewusst, dass sie noch nie unter vier Augen miteinander geredet haben. „Darf ich reinkommen?“ Maxim wirkt nervös. „Aber sicher.“ François lässt ihn vorbei. „Dann mal los. Hier ist mein Atelier. Mein Königreich, sozusagen."
Dass es nach Farbe riecht, ist das Erste, was Maxim feststellt. Das Zweite, was ihm auffällt, ist die altmodische Einrichtung. Alte, abgewetzte Möbel geben dem Raum ein antikes Flair. Diffus fällt das Licht durch ein riesiges Fenster in der Decke. Wahrscheinlich muss es so sein, denkt Maxim. Es ist ein Atelier. An den Wänden stehen Staffeleien mit halbfertigen Kunstwerken. Ein paar von ihnen gefallen Maxim. Aber nur ein paar. Alle anderen findet er gruselig. Mit verzerrten, grotesken Fratzen kann er nichts angefangen. Ob man so was überhaupt Kunst nennen darf? Er ist sich nicht sicher.
Obwohl er gerne darüber diskutiert hätte, beschließt er, diese Frage lieber nicht zu stellen, will Marquises besten Freund auf gar keinen Fall verärgern. Außerdem hat er großen Respekt vor dem Maler. Trotz der Ablehnung durch die Gesellschaft ist er seinen Weg gegangen. Soviel Kampfgeist ist bewundernswert. Zweifellos. Maxim geht zu einem der samtartig bespannten Sofas, setzt sich und sieht sich um. Je länger er hier ist, desto eher kann er verstehen, dass dieser Ort für Marquise von großer Bedeutung ist. Natürlich. Hier scheint die Zeit still zu stehen. Hier kann man sich und die Welt da draußen vergessen.
François setzt sich ihm gegenüber, sieht ihn fragend an. „Was verschafft mir die Ehre, Maxim?" „Du bist ein wichtiger Mensch in Marquises Leben. Sehr wichtig“, versucht Maxim zu erklären, „und ich habe bisher kaum ein Wort mit dir geredet. Das ist nicht richtig. Das ist so, als würde ich kein Interesse an ihrem Leben zeigen, als würde es mich nicht interessieren, mit wem sie sich trifft. Das ist nicht so.“ François legt den Kopf schief. Auf den Pressebildern sieht Maxim nicht halb so gut aus wie in Wirklichkeit. „Wow, das…“ Krampfhaft versucht er diesen Gedanken wieder zu verdrängen.
„Wer hätte damit gerechnet? Dass du einmal hier sein würdest?", sagt er schnell, ist froh, dass Maxim nichts gemerkt hat. „Was bist du für ein Mensch, François?“, fragt der unbekümmert, während er den fremden Mann ihm gegenüber unentwegt beobachtet. „Ich will wissen, was Marquise seit Jahren hierherzieht." „Marquise ist der einzige Mensch, der mich versteht“, erwidert François ruhig, zündet sich eine Zigarette an. „Auch eine?" „Ja, bitte", erwidert Maxim verwirrt. „Und ich verstehe sie. Alles.“ Die beiden rauchen eine Weile schweigend, bis François fortfährt.
„Im Grunde kann ich Frauen nicht ausstehen. Sie erinnern mich an meine Mutter. Schon deswegen gehe ich ihnen aus dem Weg. Bei Marquise ist das anders. Ich fand sie in dieser Bar… Es ist schon lange her… Sie war stockbetrunken, ganz allein. Ich sah sie am Tresen liegen, wie einen jungen Vogel, der gerade erst flügge geworden ist, der mit den Gefahren dieser Welt noch nicht vertraut ist. Ich konnte sie dort nicht liegenlassen. Es war zu gefährlich. Früher oder später hätte jemand diesem wehrlosen Ding etwas angetan. Also schleppte ich sie hierher.“ Er macht eine ausschweifende Geste mit der Hand. „In mein Atelier."
Maxim glaubt, nicht recht gehört zu haben. Marquise? Besinnungslos betrunken in einer Bar? Unwillkürlich muss er grinsen. Kein Wunder, dass sie ihm diesen Teil der Geschichte verschwiegen hat. „Und dann?“, fragt er neugierig weiter, will unbedingt noch ein paar Details erfahren. „Sie kotzte auf den Bürgersteig, schlief danach ein paar Stunden hier. Am nächsten Morgen brachte ich sie nach Hause. Da wusste sie endlich wieder, wo sie wohnte.“ François schmunzelt. „Ich habe sie nie wieder so gesehen wie an jenem Abend. Es war ein einmaliger Ausrutscher." „Das glaube ich auch“, stimmt Maxim zu.
„Sie kam am nächsten Tag wieder“, erzählt der Maler weiter, „um sich zu bedanken. Ich schenkte ihr reinen Wein ein, erklärte, was ich bin, in der Hoffnung, es würde sie abschrecken. Als sie später ging, dachte ich, ich würde sie niemals wiedersehen. Doch so war es nicht. Schon am Tag darauf stand sie wieder vor der Tür. Anfangs sah es so aus, als täte sie es aus Pflichtgefühl. Doch irgendwann merkte ich, dass sie kam, weil sie mich mochte." „Ja“, erwidert Maxim. „Sie mag dich wirklich.“
„Marquise versteht mich“, wiederholt François. „Sie sieht die Menschen, wie sie wirklich sind. Sie sieht auch den Menschen, der ich wirklich bin. Bei ihr brauche ich mich nicht zu verstellen, kann einfach ich selber sein. Deshalb brauche ich sie. Um mich selbst zu spüren. Aber ich begehre sie nicht, verstehst du. Sie braucht also keine Angst davor zu haben, dass ich sie früher oder später bedränge.“ Er macht eine Pause. „Gesellschaftlich betrachtet sind wir Randfiguren: Ich fühle mich falsch, sie fühlt sich nur wegen ihres Aussehens begehrt, nicht verstanden."
„Wenn das so ist…“ Maxim wirkt erleichtert. „Jetzt kann ich euch verstehen…" Er weiß nicht mehr, warum ihm diese Beziehung insgeheim Sorgen gemacht hat. Offensichtlich tut Marquise die Freundschaft zu dem Maler gut. Er ist für sie da, denkt Maxim, wenn ich keine Zeit habe. Das ist eine Erleichterung. Außerdem findet er nur an Männern Gefallen, sodass ich mir auch in dieser Hinsicht keine Sorgen machen muss. „Ich finde es gut, dass sie sich mit dir trifft“, sagt er laut. „Marquise braucht jemanden wie dich. Jemanden, der sie nicht verletzen wird."
„Was gibt es außerdem?“, fragt François, der schon vermutet, dass Maxim ihm noch mehr zu sagen hat. „Ich liebe Marquise“, erklärt der freimütig, drückt seine Zigarette aus. „Ich liebe sie wirklich. Sie ist die Frau, die ich heiraten will. Schon bald.“ Nervös zündet er sich eine neue an, fährt erstaunlich entschlossen fort: „Ja, ich will sie wirklich heiraten. Deshalb wird es Zeit, ihren besten Freund kennenzulernen. Und ihre Familie. Meiner Familie muss ich sie auch noch vorstellen. Ich möchte, dass es ernster wird."
„Ich freue mich für euch, aber...“ François sieht ihn nachdenklich an. „Du hast sehr viel Macht über sie, weißt du das? Versaue es nicht!“ „Macht?“ Maxim ist verwirrt. „Wie meinst du das?" „Für sie bist du alles, Maxim“, erwidert François. „Mal abgesehen vom Singen. Sie wollte immer nur dich. Ihr Glück ist somit vollkommen. Gleichzeitig ist ihre Welt zerbrechlich geworden. Durch dich ist sie verwundbar geworden. Du bist ihre einzige Schwachstelle. Eine unüberlegte Handlung wird ihr Ende sein."
„Ich habe nicht vor, ihr Ende zu sein.“ Maxim ist erschrocken. „Was denkst du von mir?" „Ich will dir eine Warnung mit auf den Weg geben.“ François sieht ihn eindringlich an. „Du musst wissen, worauf du dich einlässt. Ich bin bereit, dir meinen kleinen Vogel anzuvertrauen, wenn du versprichst, ihn nicht zu verletzen." „Natürlich verspreche ich das“, sagt Maxim aufrichtig. „Um nichts in der Welt will ich Marquise verletzen." „Entscheidend ist nicht, was du willst, Maxim“, entgegnet François mit Nachdruck. „Entscheidend ist, was du tust."
„Wie läuft es bei dir und Maxim, chérie?" will François wissen. „Wie sonst auch“, erwidert Marquise, schenkt sich ein Glas Wein ein. „Warum fragst du?" „Er war hier!" „Was?“ Sie kann das nicht glauben, wirkt unsicher. „Warum war er hier? Bisher hat er dein Atelier gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Immer wenn ich ihn gefragt habe, ob er mitkommen will, hat er abgelehnt. Ich dachte schon, es wäre was Persönliches… Also warum war er hier?" „Er wollte mich kennenlernen, wissen, warum wir befreundet sind.“ François lächelt, als er den Rubinanhänger an ihrem Hals entdeckt. „Warum interessiert ihn das plötzlich?“ Marquise ist verwirrt.
„Er sagte, dass es bei euch ernster würde… und er sich deswegen mit deinem Umfeld beschäftigen sollte. Du auch mit seinem. Da das ja so üblich wäre, wenn es… na du weißt schon… auf den letzten Schritt zugeht." François beobachtet sie genau, ist neugierig auf ihre Reaktion. „Das ist… ich bin überwältigt.“ Ein seliges Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. „Marquise Romanov… wie klingt das?" „Na so, als ob eine Französin einen Russen heiratet“, grinst François. Dann wird er sachlich: „Hast du mit Marianne darüber geredet? Rechnet sie mit diesem Schritt? Weißt du, wie sie darüber denkt?“ „Du hast Recht“, erwidert Marquise nachdenklich. „Gleich morgen werde ich bei ihr vorbeigehen."
„Heiraten?!“ Marianne ist entsetzt, bringt das Wort nur verächtlich heraus. „Warum das denn? Es gibt doch gar keinen Grund." „Wir lieben uns!" „Ach, wie süß!“ Sie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Du klingst wie ein hormonverseuchter Teenager!" „Was hast du gegen eine Heirat? Warum regst du dich so auf?“, will Marquise wissen. „Sieh es doch mal so: Wenn wir heiraten, wird es positive Schlagzeilen geben. Wir werden auf jedem Cover zu sehen sein. Außerdem werden unsere Fans endlich eine Traumhochzeit bekommen, über die sie noch jahrelang reden können. Das ist doch großartig!"
„Morgen, Marianne!" Wie bestellt erscheint David im Wohnzimmer, beendet damit die Diskussion. „Ich sehe, du bist auch schon hier.“ „Ich sehe, dass du deine Krawatte immer noch nicht richtig binden kannst“, entgegnet Marianne kühl. David lächelt überlegen. „Es ist so schön, dich näher kennengelernt zu haben“, erwidert er. „Anderenfalls wäre mir nie aufgefallen, was für eine liebenswürdige Person du bist." Dann geht er zielstrebig an ihnen vorbei in Maxims Arbeitszimmer, aus dem schon den ganzen Tag Geigentöne zu hören sind.
„Warum kannst du ihn nicht in Ruhe lassen?“ Marquise hasst unterschwellige Spannungen. „Du hattest genug Zeit, dich an ihn zu gewöhnen!" „Wir sind Konkurrenten. Schon vergessen?", erklärt Marianne bissig. „Und so, wie es aussieht, werde ich ihn nie mehr los.“ Die Managerin seufzt theatralisch. „Aber bitte… Wenn du mir das antun willst…" „Du bist also einverstanden?“ Marquise grinst. „Das heißt es nicht, es heißt nur…“ Marianne sucht krampfhaft nach den richtigen Worten. „…Tu, was du nicht lassen kannst! Du wirst schon sehen, was du davon hast. Verheiratete Frauen werden unglücklich und fett! Jammer also nicht rum, wenn du es später auch bist!" Dann rauscht sie aus der Wohnung.
Jack Rumor:
Marquise Montiniere? Wären Sie zu einem kurzen Interview bereit?
Marquise (gestresst):
Wenn Sie sich beeilen.
Jack Rumor:
Sie wirken gestresst.
Marquise:
Es ist nicht einfach, plötzlich gefragt zu sein. Ich muss mich erst daran gewöhnen.
Jack Rumor:
Sie sind sehr gefragt. Wie geht Maxim damit um?
Marquise:
Maxim hat seine eigene Karriere. Er weiß, wie schwer es im Showbusiness sein kann.
Jack Rumor:
Sie weichen meiner Frage aus.
Marquise:
Wie ich schon sagte, er versteht es.
Jack Rumor:
Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Maxim bezeichnen?
Marquise:
Als eine perfekte Symbiose.
Jack Rumor:
Klingt, als liefe bei Ihnen alles rund.
Marquise:
Ja. Wir werden bald heiraten.
„Das hast du in einem Interview gesagt?!“ Marianne ist entsetzt. „Du nimmst ein lausiges Interview, um das zu verkünden?" „Es ist mir rausgerutscht“, erwidert Marquise leise, ist sich durchaus klar darüber, dass sie einen Fehler gemacht hat. „Er hat mich fürchterlich genervt, mich in die Enge gedrängt." „Und als Dank gibst du ihm die Story des Jahres?“ Marianne kann über so viel Dummheit nur den Kopf schütteln. „Es tut mir leid“, beteuert Marquise. „Ich wollte den Fernsehauftritt abwarten. Ehrlich. Es tut mir Leid, ok?" Sie stützt den Kopf in die Hände, wirkt kraftlos. „Es ist zu viel, Marianne“, sagt sie dann. „Es sind zu viele Termine, zu viele Auftritte, zu viele Menschen um mich herum…“
„Du siehst das falsch“, erwidert Marianne kalt. „Du bist jetzt ein Star. Du brauchst die Termine, die Auftritte und die Menschen um dich herum. Die Bühne ist dein Zuhause. Klar?! Das wolltest du doch, oder?“ Sie kommt Marquise unangenehm nahe. „Inzwischen bist so weit nach oben geklettert, dass es nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Du kannst dich zusammenreißen, die Spitze erklimmen… oder dich fallenlassen. Dabei solltest du jedoch bedenken, dass der Fall nach unten frei ist, Marquise. Er wird wehtun. Sehr weh. Davon wirst du dich nie mehr erholen."
„Du verstehst mich nicht.“ Marquise presst den Handrücken gegen ihre Stirn, als habe sie Migräne. „Maxim ist unterwegs. Ich halte das nicht mehr aus. Ich brauche ihn, sehe ihn aber kaum noch. Das macht mich fertig." „Reiß dich zusammen, Herrgott!“, schnauzt Marianne, packt sie hart an der Schulter. „Würde Maxim sowas für dich tun? Sich fallenlassen, nur damit ihr euch öfter sehen könnt?" Marquise bleibt stumm. „Einen Dreck würde er tun“, zischt Marianne. „Also hör auf dich selbst zu bemitleiden." Dann geht sie, während die Diva hinter ihrem Rücken leise zu schluchzen beginnt.
„Maxim Romanov?" „Ja?" Verwirrt sieht Maxim sich um. Irgendwoher kennt er die blonde Frau, weiß aber nicht, woher. „Ich habe dich spielen gehört“, sagt sie. „Du bist fantastisch. Doch das wusste ich ja schon. Ich habe dir auch früher schon gerne zugehört…" Sie ist groß gewachsen, hat die Beine eines Mannequins, langes glattes Haar und ein schmales Gesicht. äußerlich ist sie attraktiv, bis auf ihre Augen. Die gefallen Maxim nicht. Ein helles Blau, ganz anders als die warmen, braunen Augen von Marquise. „Verzeihung, kennen wir uns?“, fragt er. „Ich kann mich nicht mehr erinnern!“
„Lucinda Williams.“ Sie reicht ihm ihre Hand mit langen filigranen Fingern, die zu ihrem Gesicht passen. „Die Tochter von Albert Williams." Der Name Williams sagt Maxim tatsächlich etwas. Albert Williams, Multimillionär, Gründer der Williamsbank, wohnhaft in London. Doch woher sollten Lucinda und er sich kennen? „Ich habe an der gleichen Akademie studiert wie du. Kulturwissenschaften“, fährt Lucinda fort, beantwortet damit seine Frage. „Du hast regelmäßig im großen Saal gespielt. Ich habe deine Musik schon damals bewundert… Ich wusste schon damals, dass du es schaffen würdest.“
Deshalb kam sie ihm also bekannt vor. Offensichtlich hat sie ihn schon früher aus der Ferne bewundert. Maxim fühlt sich geschmeichelt. „Du bist extra hierhergekommen, um mir zuzuhören?“, will er wissen. „Nicht nur“, erwidert sie, sichtlich begeistert mit ihm zu sprechen. „Ich wollte dich sehen." „Mich sehen?“ Das Gespräch geht in die falsche Richtung, denkt Maxim. Ihm wird unwohl. Bewunderinnen wie sie sind schön und gut, solange sie ihm nicht auf die Pelle rücken. Diese hier trägt jedoch ein viel zu tiefes Dekolleté für einen harmlosen Fan.
„Maxim… Ich würde mich wahnsinnig gerne ein wenig mit dir unterhalten“, fährt Lucinda fort. „Mich interessiert, was du in den letzten Jahren gemacht hast, was du tun musstest, um es zu schaffen…" „Ach ja?“ Eigentlich hat er keine Lust mit ihr zu reden. Andererseits ist sie den weiten Weg hierhergereist, um ihn zu hören. Oder zu sehen. Oder beides. Hat sie sich damit nicht wenigstens ein Gespräch verdient? „Na schön“, gibt er schließlich nach, „von mir aus." Ein strahlendes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, erreicht die Augen aber nicht. „Wunderbar. Ich kenne ein nettes Lokal gleich hier um die Ecke.“
Lucinda bestellt einen Wodka. Für beide. „Ich nehme an, du hast nichts dagegen“, sagt sie dann. „Ich meine, du bist Russe. Wodka ist doch euer Nationalgetränk." „Sicher“, erwidert er nur, wartet darauf, dass sie endlich anfängt. Das tut sie auch. „Damals an der Akademie“, beginnt sie, während sie schwärmerisch an die alten Zeiten zurückdenkt, „warst du der Held. Alle Frauen waren in dich verliebt. Heimlich natürlich. Wahrscheinlich wusstest du das nicht mal." Maxim genießt ihre Schmeicheleien, obwohl seine innere Stimme ihn zur Achtung ruft. „Ach wirklich. Und heute?" „Einige sind es immer noch“, verrät Lucinda mit geröteten Wangen.
Der Wodka kommt. Eine Weile trinken sie schweigend. Dann fragt Maxim neugierig: „Hast du früher auch für mich geschwärmt, Lucinda?" Sie sieht ihm tief in die Augen. „Ich tue es heute noch." Sowas hat er bereits geahnt. „Wie kann es sein, dass du mir nie aufgefallen bist?“, fragt er deshalb, betrachtet sie genauer. „Du bist eine attraktive Frau.“ Lucinda verzieht den Mund. „Da war diese Kleine, ein paar Jahre jünger als ich. Du konntest die Augen nicht von ihr lassen.“ „Meinst du Marquise?“ Maxim zündet sich eine Zigarette an. „Ja… Du hast dich mit ihr verlobt?“ Eine leichte Bitterkeit liegt in ihrem Worten. „Ja“, seufzt Maxim. „Ja das ist wahr.“
„Du wirkst nicht besonders glücklich“, erwidert sie, legt behutsam eine Hand auf seinen Arm. Obwohl er es nicht will, lässt er sie gewähren. „Wir haben beide unsere Karriere“, erklärt er unnötigerweise. „Das ist nicht einfach… Ich liebe Marquise. Zurzeit sehen wir uns jedoch kaum. Im Leben gibt es nun mal Höhen und Tiefen.“ „Im Moment sind es wohl eher Tiefen“, schlussfolgert die blonde Frau, gibt ihm noch einen Wodka aus. Er trinkt bereitwillig. „Ja.“ Maxim merkt, dass der Alkohol wirkt. „Ja, das kann schon sein.“
„Vielleicht ist sie nicht die Richtige für dich“, überlegt Lucinda laut, während ihre Finger von seinem Arm zu seiner Hand wandern, wo sie liegenbleiben. „Ich fand schon immer, dass sie nicht gut genug für dich ist, Maxim." „Ach ja?“, erwidert er benommen. „Ja“, beharrt Lucinda. „Sie ist eine Diva. Sie wollte schon damals bewundert werden. Du brauchst jemanden, der dich unterstützt, Maxim. Jemanden, der nicht selbst ins Rampenlicht will. Du bist so ein toller Mann… Warum bist du mit dieser Frau zusammen, wenn sie dich unglücklich macht?“
„Sie macht mich nicht unglücklich. Es sind die Umstände“, will Maxim erklären, doch Lucinda unterbricht ihn. „Maxim, du brauchst sie nicht zu entschuldigen. Sie ist nicht für dich da, oder? Und das wird sich nicht ändern, wenn du sie heiratest!“ „Es ist nicht nur Marquise, die keine Zeit hat.“ Maxim versucht erneut, die Situation zu erklären, merkt, dass seine Zunge immer schwerer wird. Lucinda fällt ihm erneut ins Wort. „Du versuchst schon wieder, sie in Schutz zu nehmen. Lass das, Maxim. Fakt ist doch, dass sie sich nicht so um dich kümmert, wie du es verdienst.“
„Wenn du meinst“, sagt er leise. „Das meine ich.“ Lucinda lächelt triumphierend. „Du bist so ein toller Mann, so ein fantastischer Musiker und du arbeitest so hart… du solltest dir eine Frau suchen, die dich unterstützt." „Hm…“, macht er nur, sieht deprimiert in sein Glas. Im Grunde stimmt es, was sie sagt. Marquise ist in der letzten Zeit wirklich nicht gerade aufmerksam gewesen, was ihn anging. Ob es umgekehrt genauso gewesen ist? Vermutlich schon. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, denkt er, wenn sich zwei Königstiger zusammentun. Vielleicht ist jedes Ego für sich zu groß?
„Es ist wirklich heiß hier drin, findest du nicht?" Lucinda zieht ihren Mantel aus, setzt ihren beeindruckenden Ausschnitt in Szene. Sie hat größere Brüste als Marquise, stellt er fest, ist sich jedoch auch sicher, dass es sich hier nicht um ein Naturprodukt handelt. Sie bemerkt seinen Blick, zieht ihre Augenbrauen hoch. „Gefällt dir, was du siehst, Maxim?" Ertappt wendet er den Blick ab. „Was meinst du?" „Na, ob dir meine Brüste gefallen." Widerstrebend sieht er ein zweites Mal hin. „Die sind nett… schätze ich." „Schätzt du?“ Sie zieht eine Schnute. „Naja…im Detail kann ich es nicht beurteilen…“
Maxim merkt noch, dass gerade etwas völlig schiefläuft, fragt sich, wie es überhaupt dazu gekommen ist. War er etwa schon betrunken? Jetzt? Vor zwölf? Von zwei Gläsern Wodka? Er ist so damit beschäftigt, seine Gedanken zu ordnen, dass er gar nicht mitbekommt, dass Lucinda inzwischen auf seinem Schoß sitzt. Hatte er die Mutmacher vor dem Konzert nicht mitgezählt? „Maxim“, dringt es wie durch Watte in seine Ohren. „Ich würde dich besser behandeln als sie. Maxim, ich würde dich so behandeln, wie du es verdienst. Ich wäre immer für dich da…"
„Lucinda.“ Sein Versuch, sie abzuwehren, ist viel zu schwach. „Ich denke nicht, dass…" Sie weiß genau, dass nur noch eine Kleinigkeit fehlt, um ihn willenlos zu machen. „Keiner muss davon erfahren.“ Sie greift nach seinen Händen, zieht sie zu ihren Brüsten und lässt sie dort liegen. Dann spürt er ihre Zunge auf seinem Hals. „Es kann unser Geheimnis bleiben, wenn du willst", säuselt sie, will ihre einzige Chance auf gar keinen Fall vertun. „Gib es zu, du willst es doch auch.“ „Ich glaube nicht…“, murmelt Maxim noch. Was dann geschieht, hat er nicht mehr in der Hand. Er weiß nur, dass es ein riesengroßer Fehler ist. Vielleicht der größte seines Lebens.
Als Maxim am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen erwacht, bemerkt er, dass er sich in einem fremden Raum befindet. An der Tür hängt eine Nummer, die Nummer eines Hotelzimmers. Großer Gott, wer hat ihn hiergebracht? Verunsichert sieht er sich weiter um, erkennt mit Entsetzen die blonde Frau neben sich im Bett. Sie scheint zu schlafen. Bei einem Blick unter die Decke stellt er fest, dass sie nackt ist, genau wie er. Es trifft ihn wie ein Schlag: Lucinda. Die Bar. Der Alkohol... Bruchstückhafte Erinnerungen drängen sich in sein Bewusstsein. Ja… Sie haben die Bar zusammen verlassen. „Komm mit mir, Maxim. Nur für heute“, hat sie gebettelt. Dann ist er ihr in dieses Hotel gefolgt. Was hat er nur getan?
In Eile sammelt er seine Sachen zusammen, zieht sich hastig an, verlässt fluchtartig das verhängnisvolle Zimmer, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Draußen auf der Straße ist ihm furchtbar elend zumute. Sein schlechtes Gewissen verfolgt ihn auf Schritt und Tritt. Was soll er nur tun? Soll er Marquise davon erzählen? Nein. Das kann er nicht. Es ist nicht die Angst vor einer Szene. Es ist die Angst, sie zu verletzen. Besser ist es also, den Abend zu vergessen. Dann würde alles so sein, als wäre das nie geschehen. Ja. So könnte es funktionieren. Trotzdem… wirklich wohl bei dem Gedanken ist ihm nicht.
Je länger er sich mit seiner furchtbaren Lage beschäftigt, desto wütender wird er. „So ein Mist!“ Mit voller Kraft tritt er gegen eine Mülltonne am Wegrand. Dann setzt er sich auf eine Bank, bricht hemmungslos in Tränen aus. Er kommt sich vor wie ein Versager. Das Mädchen neben ihm bemerkt er erst später. Sie starrt ihn neugierig an. Verwirrt schaut er zurück. Sie ist etwa zehn, hat dunkles Haar und braune Augen. Wie Marquise. „Warum weinst du?“, fragt sie plötzlich, reicht ihm, als er nicht antwortet, mit ernster Miene ein Taschentuch. „Hier. Damit du nicht mehr so traurig bist.“ „Danke…“ Er greift zu, wischt sich die Augen trocken.
Schließlich wiederholt sie ihre Frage: „Warum weinst du?“ „Ich habe etwas Furchtbares getan“, antwortet Maxim eher unwillkürlich als überlegt. Irgendwie erinnert auch sie ihn an Anna. „Was hast du getan?“ Noch immer sieht das Mädchen ihn aufmerksam an. „Ich… ich…“, stammelt Maxim, sucht nach den richtigen Worten. „Ich habe die Frau, die ich liebe, betrogen.“ „Was heißt das? Betrogen?“ „Das wirst du erst verstehen, wenn du erwachsen bist“, vertröstet er sie leise. „Kinder tun sowas nicht.“ „Ist das was Schlimmes?“ Maxim seufzt. „Warum sollte ich sonst weinen?“
„Dann ist es sehr schlimm“, stellt sie sachlich fest. Maxim nickt. „Es wird die Frau, die ich liebe, sehr unglücklich machen. Wenn ich es sage, geht sie womöglich weg. Zumindest wird sie mich hassen.“ „Ich glaube nicht, dass sie dich hassen wird“, entgegnet das Mädchen mit sanfter Stimme, „solange du ehrlich bist.“ „Du kannst das nicht verstehen“, behauptet er. „Du bist ein Kind. Kinder dürfen Fehler machen. Man sieht es euch nach, erwartet sogar, dass ihr Fehler macht, weil ihr jung seid. Wenn Erwachsene Fehler machen, ist das anders.“ „Trotzdem musst du es sagen“, beharrt das Mädchen. „Sonst bist du ein Lügner.“ „Ich kann es nicht!“ In seinem Kopf dröhnt es. „Hörst du? Ich. Kann. Nicht!“
Das Mädchen wirkt enttäuscht. „Du tust es schon wieder“, sagt sie dann. Dieser Blick… Maxim wird flau. „Anna?“ Sie reagiert nicht auf diesen Namen. „Du läufst schon wieder davon, Maxim“, fährt sie stattdessen unbeirrt fort. „Anna?“, fragt er noch einmal. Auch jetzt bekommt er keine Antwort. Bin ich nun endgültig durchgedreht? Maxim ist sich nicht sicher. „Renn nicht weg, Maxim.“ Vorsichtig nimmt die Kleine seine Hand. Ihre Haut ist kalt. „Du wirst gebraucht. Ganz egal, was du getan hast. Sei kein verdammter Feigling! Nicht dieses Mal!“ „Anna?“ Er fasst sich an die schmerzende Stirn, stellt fest, dass das Mädchen neben ihm verschwunden ist.
„Verdammte Paparazzi!“, schimpft Marquise, als sie François‘ Atelier endlich erreicht hat. „Die haben mich verfolgt. Ich musste den Weg durch die Gasse nehmen, um sie los zu werden.“ „Denkst du nicht, dass es langsam an der Zeit wäre, einen Leibwächter zu engagieren?“, gibt François zu bedenken. „Du bist berühmt. Da ist sowas durchaus angebracht.“ „Ich weiß“, stöhnt sie. „Marianne will sich darum kümmern.“ „Die denkt wohl an alles.“ François kann nicht verbergen, dass er ihre Weitsicht bewundert. „Tut sie das?“, fragt Marquise lustlos nach. „Ich nehme sie gar nicht mehr richtig wahr, obwohl sie ständig um mich herumschwirrt.“
„Was ist los, chérie?“ François sieht sie besorgt an. „Warum lässt mein Vögelchen den Kopf so hängen?“ Sie schaut betrübt ins Leere. „Maxim und ich… Wir leben uns auseinander“, rückt sie dann schließlich doch mit der Sprache heraus. „Wir sehen uns kaum noch. Und wenn wir uns sehen, dann streiten wir wegen jeder Kleinigkeit. Aber es ist nicht nur das… Wir vernachlässigen unsere Beziehung in allen Bereichen. Letzte Woche haben wir unseren Jahrestag vergessen. Beide. Außerdem spüre ich, dass Maxim etwas verheimlicht. Er ist so wortkarg, weicht meinem Blick aus.“ Dann fängt sie hemmungslos an zu weinen.